"Chinatown": Die ganze Ungerechtigkeit der Welt (2024)

Vor 50 Jahren kam "Chinatown" in die US-Kinos, der Film mit dem perfekten Drehbuch. Gemacht hat ihn indes ein Haufen böser Männer. Wie lässt er sich heute betrachten?

Von Dirk Peitz

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Am Tag nachdem der Film Chinatownam 20. Juni 1974 in den US-amerikanischen Kinos angelaufen war, schrieb Rex Reed in seiner Kolumne in der New York Daily News, dieser Film sei "sogroß und spannend und unterhaltsam, dass in vielen Jahren, wenn wir einmalzurückblicken werden auf die wirklich wichtigen Filme der Siebzigerjahre, Chinatownwahrscheinlich der sein wird, an den wir die liebevollsten Erinnerungen habenwerden". Der Kolumnist, Hollywoodstar-Interviewer und Schriftsteller Reed,könnte man hier einwenden, war allerdings auch ein sehr begabter Schwärmer.Sein noch ein bisschen erfolgreicherer Kollege Tom Wolfe hatte bereits 1973 inseinem Reader The New Journalism ein Interview von Reed mit Ava Gardnermit einem interessanten literarischen Vergleich vorgestellt: Reed, so Wolfe,schreibe sich selbst in Texte hinein auf eine Weise, wie es der Funktion von NickCarraway in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby entspreche. Carrawayist der Erzähler in Fitzgeralds Roman und eine völlige Nebenfigur: Carrawayblickt liebevoll, aber halt von schräg unten auf den mysteriösen ProtagonistenJay Gatsby. Er schwärmt von ihm.

Mit dieser Erzählhaltung, von sehrweit schräg unten schwärmend, hätte man früher wohl auf Chinatowngeblickt bei einem Anlass wie einem runden Geburtstag des Films. Täte man dasheute so, würde man Rex Reed weitgehend recht geben, nur ungebrochen liebevoll ist die Erinnerung nicht: Selbst aus dem vielleichtgroßartigsten Jahrzehnt des US-amerikanischen Films, dem New Hollywood der Siebzigerjahre, ragt Chinatownals Kunstwerk bis heute heraus. Die Videos, in denen YouTuber weiter darüberdiskutieren, ob Chinatown womöglich das beste Drehbuch aller Zeitenhatte, das perfekte Skript, sind Legion.

Das eigentlich Interessante undBedenkliche an Chinatown für die Gegenwart aber ist, dass er geradezuidealtypisch in heutige Diskussionen über ältere Kunstwerke, ihr Zustandekommenund das außerkünstlerische Verhalten der beteiligten Kunstschaffenden passt.Kunst wird ja seit einigen Jahren verstärkt im Rückblick befragt danach, obihre Inhalte oder Ausdrucksweisen heute noch als akzeptabel gelten oderMenschen verletzen könnten; ob sie umgekehrt unter demEindruck des vermeintlichen Cancel-Zeitgeistes heute noch so gemacht werden könnte oder würde; und ob die zum Teil erst vielspäter bekannt gewordenen oder zumindest heute neu betrachteten Missetaten der Schöpfer von einst für groß gehaltenen Kunstwerken dieseKunstwerke rückwirkend beschmutzen, sie gar hinfällig machen.

Schon wegen zweier Schlüsselszenenin Chinatown, in denen Gewalt gegen eine Frau ausgeübt wird, könnte manden Film heute per se für problematisch halten. Und noch mehr könnte man es mitdem Wissen um das reale Gebaren gegenüber Frauen damals und vor allemspäter derjenigen Männer, die den Film gemacht haben: des Regisseurs RomanPolański, des Drehbuchautors Robert Towne, des Hauptdarstellers Jack Nicholson,des Produzenten Robert Evans. Nach heutigen Kriterien waren und sind sie, inunterschiedlicher Abstufung: böse Männer mit im Privaten, aber in Memoiren undZeitzeugenberichten ausgebreitetem problematischen Sozialverhalten gegenüberFrauen. Und in Chinatown spielt überhaupt nur eine Frau eine wichtigeRolle, Faye Dunaway als Darstellerin einer Figur, die verzweifelt versucht,nicht weiter das Opfer zu sein, zu dem ein spezieller Mann sie gemacht hat, dieübermächtige Vaterfigur.

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Die US-Kulturjournalistin ClaireDederer hat genau diese Fragen, mit denen Kunstwerke der Vergangenheit heutebefragt werden (können), und genau Roman Polański zum Ausgangspunkt ihres imvergangenen Jahr erschienenen Sachbuchs Monsters: A Fan's Dilemma (aufDeutsch Genie oder Monster: Von der Schwierigkeit, Künstler und Werk zutrennen) gemacht. Für ein eigentlich anderes Buchprojekt hatte Dedererlange zuvor noch einmal alle Filme Polańskis gesehen, zu dessen SchaffenFilme gehören, die man in der Zeit ihrer Entstehung allgemein für Meisterwerke hielt, neben Chinatown vor allem RosemariesBaby (1968) und Der Pianist (2002). Bereits im Jahr 2017 hatteDederer in einem Essay in der Paris Review dargelegt, dass sie beimBetrachten der Polański-Filme eingeschüchtert gewesen sei von der "Ungeheuerlichkeit"des Regisseurs, seiner Monsterhaftigkeit: "Sie war monumental, wie derGrand Canyon. Und trotzdem. Als ich seine Filme anschaute, war deren Schönheiteine andere Art von Monument, undurchlässig für seine Missetaten."

Eigentlich unerträglich alles

Roman Polański istHolocaustüberlebender und musste als Gatte im Jahr 1969 etwas ertragen, waseigentlich unerträglich ist: Seine Ehefrau Sharon Tate und ihr gemeinsames ungeborenes Kindwurden von Mitgliedern der Manson-Sekteermordet.

Und Roman Polański hatim Jahr 1977, drei Jahre nach dem Kinostart von Chinatown, einem damals13-jährigen Mädchen namens Samantha Gailey nach deren Aussagen in Los Angeles –im Haus von Jack Nicholson (der nicht anwesend war) – Champagner und Pilleneingeflößt, sie zu Nacktaufnahmen im Pool überredet und sie anschließend vergewaltigt.

Polański wurde damals von derPolizei in Gewahrsam genommen. In einer außergerichtlichen Vereinbarung hater eingestanden, sich des Verbrechens "widerrechtlichenGeschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen" schuldig gemacht zu haben –in keinem denkbaren Rechtsverständnis, nicht 1977 und nicht 2024, ist Sex miteiner 13-Jährigen kein Verbrechen (und allenfalls später eine Frage derVerjährungsfristen). Polański hat sich durch Flucht aus den USA einer Anklageentzogen, er lebt seither in Frankreich; alle Auslieferungsanträge derUS-Justiz auch an die Schweiz und Polen bei Reisen Polańskis dorthin blieben erfolglos.Roman Polański ist nie bestraft worden für das, was er getan hat. Und es gibt weitere Anschuldigungen: Im kommenden Jahr soll in den USA ein Zivilprozess wegen eines anderen Vergewaltigungsvorwurfs einer anderen Frau gegen Polański beginnen, der soll die Tat im Jahr 1973 begangen haben. Eine weitere Frau warf Polański vor fünf Jahren vor, er habe sie 1975 vergewaltigt. 2010 beschuldigte eine noch weitere Frau Polański, sie in den Achtzigerjahren vergewaltigt zu haben, sie sei zum Zeitpunkt der vermeintlichen Tat 16 Jahre alt gewesen. Und 2017 folgte ein weiterer Vergewaltigungsvorwurf, diese Frau sagte, sie sei 1972 Opfer vonPolański geworden, sie sei damals 15 Jahre alt gewesen. Die Fülle und Schwere der Anschuldigungen Roman Polański sind wahrlich monströs.

Samantha Gailey – heute Geimer – hat imJahr 2013 ihre Memoiren veröffentlicht. Deren Titel The Girl. A Life in theShadow of Roman Polański enthält bereits die niederschmetternde Erkenntnis,dass die öffentliche Wahrnehmung des ganzen Lebens eines ansonsten unbekanntenweiblichen Verbrechensopfers überschattet sein kann von der Bekanntheit einesmännlichen Täters. Das Opfer bleibt in dieser Perspektive immer weiter dasMädchen, dessen Schicksal an eine Gewalttat gekettet bleibt. Zugleich hatGeimer in Interviews – im vergangenen Jahr sogar in einem mit der EhefrauPolańskis, Emmanuelle Seigner – betont, dass sie Polański nichts mehr vorwerfe.Sie sagte, es sei eine "schreckliche Bürde" für sie, immerzuwiederholen zu müssen, dass die Vergewaltigung "keine große Sache"für sie gewesen sei und ihr unmittelbar nach dem Geschehen nicht einmal klar gewesen sei, dass dies einVerbrechen gewesen sei: "Mir ging es gut, mir geht es immer noch gut."

Wenn ein mutmaßliches Opfer einem mutmaßlichenTäter vergibt, ist damit dann alles gut? Nicht nur zwischen diesen beiden,sondern auch für die Öffentlichkeit, selbst wenn die dieses Vergeben womöglichnicht verstehen, gar anstößig finden könnte? Was ist das Vergeben einesmutmaßlichen Opfers wert, wenn der mutmaßliche Täter nie strafrechtlich zurKonsequenz gezogen wurde? Ist das künstlerische Schaffen eines einst Teilgeständigenwie Polański, wenn es durchs Vergeben des Opfers einer Straftat nicht einmalmehr vom Künstler getrennt werden müsste, automatisch rehabilitiert? Oder istdie ganze Diskussion eine große, falsch moralisierende Schimäre, und werSkrupel beim Betrachten von Kunstwerken hat, egal aus welchen Gründen, sollsich halt ein anderes Hobby zulegen als Filmegucken – oder sich verdammt nochmal zusammenreißen und die Realitäten der Welt zur Kenntnis nehmen, ihrevielleicht bedauerliche, aber unvermeidliche Ungerechtigkeit?

Genau um die Ungerechtigkeit derWelt aber und wie unerträglich die ist: Darum geht es im Kern in Chinatown.An diesem 50 Jahre alten Kunstwerk lassen sich also paradoxerweise auch heutigeGerechtigkeitsfragen sehr gut verhandeln.

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